06.08.2014
Der Lindenbaum als Naturdenkmal
Der Lindenbaum ist den Eschersheimern lieb und teuer. Die besondere Bedeutung der Linden in der Liebesdichtung belegte jetzt der Mainzer Professor Stephan Jolie bei seiner Baumlesung. Über das Naturdenkmal an der Eschersheimer Landstraße ist jedoch nur wenig überliefert.
„Under der linden an der heide“ erzählt der Minnesänger Walther von der Vogelweide in Mittelhochdeutsch von einem Liebespaar, über dem ein Vögelein wachte. „Als Heide bezeichnete man im Mittelalter eine offene unbebaute Landschaft zwischen Dorf und wilder Natur, an deren Übergang die Linde stand“, erklärte der Mainzer Philologe Professor Stephan Jolie. „Genau dorthin ging man zur Liebe.“
Rund 60 Zuhörer lauschten jetzt seiner Lesung unter dem Lindenbaum, einer fragte später, ob das für die Linde an der Eschersheimer Landstraße auch noch gegolten haben mag. Jolie entgegnete augenzwinkernd, das müssten die Eschersheimer Poeten und Heimatforscher wissen. Diese Zunft war immerhin durch den Stadtteilhistoriker Oskar Zindel und den Baumexperten Friedrich Beyhl vertreten. Diese lobten den Lindenbaum an der gleichnamigen U-Bahn-Station als Naturdenkmal, das zur Ernennung Frankfurts zur europäischen Stadt der Bäume unter den 200 000 Stadtbäumen besonders geehrt und von der Lindenkönigin Jennifer I. würdig vertreten wird. Ihre Majestät erklärte, ihres Amtes noch bis nächstes Jahr zu walten – doch welche historische und biologische Bedeutung kommt dem Wahrzeichen wirklich zu?
Zeuge der Zeit
„Man findet schon mal Behauptungen auf Fotos, nach denen es eine Eschersheimer Linde bereits 1470 gegeben haben soll“, sagte Zindel. Doch in den Archiven sei davon nichts überliefert. Die große Linde an der Eschersheimer Landstraße, zu der sich kleinere Artgenossen aus dem vergangenen Jahrhundert gesellt haben, dürfte über 300 Jahre alt sein und aus dem Ende des 17. Jahrhunderts stammen.
„Das Grünflächenamt musste das Alter schätzen, da der Baum nicht hohl und eine Untersuchung der Jahresringe somit nicht möglich ist“, sagte Beyhl. 24 Meter hoch und 20 Meter breit ist die Linde, der Stamm mit den Knollenfasern rund 2,50 Meter dick. Bei solch einem Naturdenkmal können diese Maße jedoch variieren – je nach Jahreszeit und Dichte der Krone.
„In der Literatur ist die Linde neben der stämmigen Eiche ein typisch deutscher Baum, der sich besonders durch Sanftheit und Milde auszeichnet“, erklärte Jolie weiter. Daher leiten sich von ihr der Name „Linda“, das Verb „lindern“ sowie die Adjektive „lind“ und „lindo“ (Spanisch und Portugiesisch für schön) ab. Zudem haben die Blüten heilsame, nach dem „Lexikon des deutschen Aberglaubens“ sogar zauberhafte Wirkung. So etablierte sich die Linde in der Kultur und Märchenwelt des Mittelalters und der Frühen Neuzeit als Baum der Liebenden und als ein Friedenssymbol.
„Die einzige Friedenslinde in Eschersheim steht allerdings in der Straße Alt-Eschersheim 83 und wurde 1871 nach dem deutsch-französischen Krieg anlässlich des Frankfurter Friedens gepflanzt“, stellte Zindel klar. Die bislang älteste Linde stand mit mindestens 380 Jahren am Weißen Stein und stürzte 1923 zu Boden. Auch im ehemaligen Heckwald rund um den Eschersheimer Wasserturm gab es neben Erlen, Weiden und Buchen Linden, aus deren Holz Schuhe und Löffel hergestellt wurden. „Die Linde an der Eschersheimer Landstraße, die früher Frankfurter Straße hieß, war wohl eine Landmarke und ein Rastplatz für Kaufleute“, sagte Zindel.
Goethe und die Linden
In dieser Funktion kommt die Linde auch in Wilhelm Müllers Gedicht „An dem Brunnen vor dem Tore“ vor. Und in den Briefen der Bettina Brentano fand sie ebenso ihren Platz wie bei Thomas Mann und bei Ingeborg Bachmann. Auch bei Goethe ist die Linde ein starkes Symbol der Natur und der Liebe im Roman „Die Leiden des jungen Werthers“. Sie begegnet der unglücklich verliebten Hauptfigur im idyllischen Ort Wahlheim und erfüllt ihr den letzten Wunsch: Werther erschießt sich und wird begraben – ohne geistlichen Beistand, doch an zwei Lindenbäumen.
Artikel Frankfurter Neue Presse vom 06.08.2014. Von Gernot Gottwals

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